Zwischen Euphorie und Lagerkoller

02.04.2020 von Marion Theisen
Haus Müllestumpe

Betreuung von Menschen mit Behinderung in besonderen Zeiten

Haus Müllestumpe in Bonn-Graurheindorf ist normalerweise ein Ort, an dem sich viel bewegt: 35 junge Erwachsene mit geistiger Behinderung oder psychischen Problemen sind dort im betreuten Wohnen. Manche leben in Apartments an der Rheindorfer Burg. Andere wohnen in inklusiven WGs, kommen aber regelmäßig für Veranstaltungen und Ausflüge vorbei. Das Freizeitprogramm ist nun komplett gestrichen, erst mal bis zum 19. April. Auch die hauseigene Mal- und Holzwerkstatt, das Repaircafé und der Hotel- und Gastronomie-Betrieb stehen komplett still. Und ob im Mai der Ausflug ins Phantasialand stattfinden kann, steht noch in den Sternen.

Simon Schreiber ist der pädagogische Leiter des Hauses. Anstelle von vielen persönlichen Gesprächen und Betreuung kümmert er sich im Moment viel um neue Konzepte und Fundraising. Zwei Mitarbeiter*innen musste der Betrieb schon in Kurzarbeit schicken. Jetzt herrscht gespanntes Warten, ob das auch bewilligt wird. Der Arbeitgeber will dann bis zum vollen Gehalt aufstocken.

Simon Schreiber bei der Büroarbeit
Simon Schreiber bei der Büroarbeit

Tagesstruktur fällt weg

„Die Art der Betreuung hat sich total verändert; die ganze Tagesstruktur fällt ja weg“, sagt er und schaut aus seinem Bürofenster auf das leere Gelände. Normalerweise sind die Bewohner*innen einen Teil des Tages in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung und essen dort auch zu Mittag. Nachmittags und abends gibt es Angebote wie gemeinsames Kochen, eine Trommelgruppe oder Musik- und Tanzveranstaltungen.

Nun bleiben alle den ganzen Tag lang in Haus Müllestumpe. Für die Betreuer*innen, sagt Simon Schreiber, ist die Situation ebenso neu wie für die Bewohner*innen: „Aber wir versuchen das Beste daraus zu machen. Manchmal muss man die eigentliche Betreuungsarbeit nämlich zwischen Werkstatt und Freizeitangebote hinein-organisieren. Jetzt haben wir Zeit dafür.“ Jede*r Bewohner*in hat Zielvereinbarungen im so genannten Hilfeplan. Da geht es zum Beispiel um selbstständiges Einkaufen, Mengen abmessen und Kochen. Oder auch darum, wie man einen Haushalt führt. Das zu erledigen, ersetzt im Moment die Tagesstruktur.

So viel Normalität wie möglich

Am Anfang der Corona-Krise waren die Bewohner*innen fast euphorisch. Alles war neu und aufregend, nur die Nachrichten im Fernsehen machten manchmal Sorgen. „Das für unsere Bewohner*innen mit Lernschwierigkeiten in Leichte Sprache zu übersetzen, ist nicht ganz einfach“, so der pädagogische Leiter. Gut, dass es vom Land NRW Informationen in Leichter Sprache gibt. (Link: https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/corona-virus_leicht_2020-03-25_final_bf.pdf)

„Mittlerweile macht sich bei den ersten eine Art Lagerkoller bemerkbar“, so Simon Schreiber. Das versuchen die Betreuer*innen aufzufangen, so gut es geht: Ein Bewohner-Pärchen kocht auch weiterhin einmal pro Woche mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter. Eine Künstlerin bietet Einzelbetreuung im Malen an. Auch die täglichen Spaziergänge helfen. „Aber“, fügt Schreiber ehrlich hinzu: „Natürlich wird auch hier im Moment mehr ferngesehen oder Konsole gespielt als sonst.“ Nur einmal gab es Tränen: Eine Bewohnerin hatte Geburtstag und wollte dazu ihre (sehr große) Familie und natürlich auch die Betreuer einladen. Dass das nicht ging, war für sie nicht leicht zu akzeptieren.

Pläne für den Ernstfall

Und was, wenn die Einrichtung vom Virus betroffen wäre? Für diesen Fall haben sie in ihrer letzten Teamsitzung per Skype Pläne geschmiedet: „Wir haben die Eltern der Bewohner*innen gebeten, jetzt möglichst wenig zu Besuch zu kommen. Dann können sie im Notfall einspringen und ihre Kinder nach Hause holen. Ein Besuchs-Verbot dürfen wir nicht aussprechen, weil jede*r Bewohner*in einen eigenen Mietvertrag hat. Wir können nur Empfehlungen geben.

Simon Schreiber selbst ist jeden Vormittag im Büro und arbeitet nachmittags im Homeoffice. So teilen die Kolleg*innen sich auf, um mehr Abstand voneinander zu haben. Während er sich zu Beginn der Krise noch unter Druck fühlte, habe er sich jetzt damit arrangiert, sagt er. „Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich arbeiten gehen kann. Und in der letzten Teamsitzung habe ich mal eine Befindlichkeitsrunde gemacht, die ganz positiv war: Alle sind recht happy und kommen zurecht.“

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Integration, Soziales, Wohnen | Interview
Text von Marion Theisen, freie Journalistin
Meinungen der Autoren müssen nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben.

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