„Wie für Wähler gemacht“

27.11.2019 von Andrea Hillebrand
Rausgehen ist für Kinder wichtig

Ein weiteres Jahr kostenlos, Kindergärten länger offen – das neue Kinderbildungsgesetz in NRW verspricht viel. Doch wer soll das bezahlen? Und wo kommen die Fachleute her? Da hält sich der Staat zurück.  

„Das Gesetz klingt gut, wie für Wähler gemacht“, sagt Franziska Ziegler. „Aber bei uns werden die Probleme sichtbar, und alle müssen sie tragen.“ Die Rede ist vom KiBiZ, dem Kinderbildungsgesetz in Nordrhein-Westfalen, das die Struktur und die Finanzierung der Kindertagesstätten regelt. Seit dem Frühjahr 2019 läuft eine Reform. „Jede Kindertageseinrichtung in NRW“, heißt es auf der Internetseite der Landesregierung, „erhält künftig mehr finanzielle Mittel für mehr Personal. Es soll sichergestellt werden, dass sich die Finanzierung jedes Jahr entsprechend der tatsächlichen Entwicklung der Personal- und Sachkosten erhöht.“ Für Eltern soll unter anderem ein weiteres Kindergartenjahr kostenfrei werden. Kitas sollen länger geöffnet sein, von sechs Uhr morgens bis sechs oder sogar acht am Abend.

Der Alltag, sagt Franziska Ziegler, sieht anders aus. Besonders für die freien Träger, also für Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Ziegler leitet den Kindergarten der evangelischen Lukaskirche in Bonn, mit 63 Kindern in vier Gruppen, davon zwei mit unter Dreijährigen, die extra viel Betreuung brauchen. Elf Mitarbeiterinnen kümmern sich um sie, mehrere in Teilzeit, darunter auch sie selbst. „Gerade sind wir ganz gut besetzt“, sagt Ziegler. „Aber eine Kollegin ist in Urlaub und eine andere krank. Das bedeutet, dass wir uns durch den Tag hangeln müssen.“

Mehr offene Tage würden für den Lukaskindergarten heißen, dass er keine Betriebsferien mehr machen kann. Fast ständig wird jemand in Urlaub sein. „Wir haben jetzt schon Mühe, uns zu besprechen, und das ist wichtig, um den Kindern gerecht zu werden“, sagt Franziska Ziegler. „Das ist nicht gut – und auch Kinder brauchen mal Ferien vom Kindergarten.“ Öffnungszeiten bis abends bedeuten, dass zusätzliche Kräfte eingestellt werden müssen und dass die Kinder, die vertraute Personen brauchen, sich öfter an neue Gesichter gewöhnen müssen. Und selbst wenn sich das machen ließe – es gibt zu wenig Kräfte auf dem Markt. Das packt der Gesetzgeber nicht entschlossen genug an, beanstanden die Kirchen.

Dabei würdigen sie, dass das Land insgesamt 750 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt und etwa die Pauschalen pro Kind dynamisch berechnet werden, also an der tatsächlichen Preisentwicklung orientiert seien. Doch „das Geld reicht nicht aus“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme der drei evangelischen Landeskirchen und fünf Bistümer in Nordrhein-Westfalen. Nach einer Berechnung der Wohlfahrtsverbände fehlen für eine auskömmliche Finanzierung 570 Millionen Euro bei den Sachkosten. Diese seien, anders als die Personalkosten, nicht neu berechnet worden. Die Kirchen befürchten zusammen mit den Wohlfahrtsverbänden, dass auch die aufgestockte Finanzierung nicht reicht. Das gefährde die Qualität gerade der frühkindlichen Betreuung. Und es treffe vor allem kleine Einrichtungen. Dabei sei gerade die wohnortnahe Versorgung für Kinder und Eltern wichtig.

So wie beim Lukaskindergarten. Ziegler hat dort angefangen, nachdem ihr früherer Kindergarten aufgeben musste. Einrichtungen der freien Träger sollen einen Anteil aus eigenen Mitteln finanzieren. Wenn sie in Schwierigkeiten kommen, müssen sie mit der Kommune verhandeln. Die kann Bedingungen stellen. Das erschwert mitunter dem Kindergarten, sein pädagogisches Profil aufrechtzuerhalten. Dabei ist Vielfalt bei den Anbietern gewollt, von Eltern genauso wie vom Gesetz.

Die knappe Sachkostenerstattung bringt zusätzlichen Druck. „Wir wollen die Arbeitssicherheit verbessern und eine Qualitätssicherung einführen“, erzählt Ziegler. „Das kommt zur Arbeitsbelastung hinzu.“ Kann der Träger nicht helfen, in ihrem Fall die Kirchengemeinde? „Die Verantwortlichen unterstützen uns mit allen Kräften“, sagt Ziegler, „sie kümmern sich schon umfassend um Finanzen und Baufragen, und das alles ehrenamtlich. Das ermutigt uns. Aber mehr geht einfach nicht.“

Noch eines stört die Kirchen und freien Träger: Der Gesetzentwurf entstand ohne ihre Beteiligung. Sie wurden anders als bisher nicht gefragt, als der Gesetzentwurf zwischen Land und kommunalen Spitzenverbänden ausgehandelt wurde. Erst über Anhörungen im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens konnten sie Ende September 2019 ihre Sicht einbringen. Dabei stellen die freien Träger mit rund 7000 Einrichtungen den Löwenanteil der Kindertagesstätten in Nordrhein-Westfalen. Das Verfahren macht sich im Gesetzentwurf bemerkbar, sagen die Kirchen. Denn während die kommunalen Einrichtungen zu 100 Prozent gefördert werden sollen, müssten die freien Träger in der Summe künftig einen höheren Anteil an der Finanzierung selber bestreiten. Das aber könnten viele von ihnen nicht mehr schultern.

„Wir brauchten eine verlässliche Sockelfinanzierung“, sagt Petra Swetik. „Darauf müssen ergänzende Finanzierungen aufsetzen, je nach Bedarf vor Ort, etwa für Einrichtungen mit einem hohen Anteil von Kindern mit erhöhtem Betreuungsaufwand, oder bei Kindern unter drei Jahren, die mehr Zuwendung brauchen.“ Petra Swetik ist Betriebsleiterin für den Bereich Frühkindliche Elementarpädagogik beim Kreisverband Bonn/Rhein-Sieg der Arbeiterwohlfahrt. Da ist sie verantwortlich für 17 Kindertageseinrichtungen mit insgesamt 54 Gruppen und knapp 1000 Kindern. Darüber hinaus betreut der Verband zehn Elterninitiativen und hat die Fachberatung für drei kommunale Einrichtungen übernommen. „Wir bedauern, dass diese zwei-Komponenten-Finanzierung vom Tisch ist“, sagt sie. Und sie weist darauf hin, dass der vom Land vorgesehene Sachkostenanteil bei der Finanzierung mit zehn Prozent kalkuliert wurde.

Das ist viel zu wenig, sagt sie und listet auf: „Der Aufwand wächst fast überall, zum Beispiel für Arbeitsschutz, Brandschutz, Nebenkosten, Fortbildung und vieles mehr.“ Sie zeigt auf die großen Glasflächen der Internationalen Kita im Bonner Regierungsviertel, eine lichte, offene Atmosphäre. „Wir müssen in mehreren Einrichtungen in Hitzeschutz investieren“, sagt sie. In heißen Sommern wärmen sich die Räume so stark auf, dass man es fast nirgends aushalten kann.

Und in Bonn herrscht Zuzug. Mehr Eltern als früher sind berufstätig.  Sie wollen ihre Kinder früher in Kindertageseinrichtungen unterbringen und dort länger betreuen lassen können.
 
Das fordert mehr Betreuungsplätze, mehr Aufwand und mehr qualifizierte pädagogische Fachkräfte.
Anfang des Jahres haben die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und in Bonn tätiger anerkannter Träger der freien Jugendhilfe den Bedarf ermittelt: Für die zusätzlich benötigten Kita-Gruppen brauchen sie mehr als 380 Kräfte.
Aber die Ausbildungszahlen kommen nicht mit, macht Swetik geltend. Und sie wünscht sich, dass ein in anderen europäischen Ländern geltender Standard auch in Deutschland selbstverständlicher wird: Je jünger die Kinder, desto höher die Qualifikation.

Denn in den ersten Lebensjahren entscheidet sich viel: Bildungschancen zum Beispiel und Integration. Deshalb brauchen Kinder in der Kita viel Zeit und Zuwendung. So können sie beispielsweise ihr Selbstbewusstsein stärker entwickeln, „dann trauen sie sich viel mehr Dinge zu“, sagt Swetik.

Und sie rechnet vor, dass die Erstattung der Sachkosten, die leicht steigen soll, schnell aufgefressen wird durch längere Öffnungszeiten und den wachsenden Aufwand. Und wo sollen die Leute herkommen? „Mir erschließt sich nicht“, sagt sie, „wie das zu stemmen sein soll.“

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Bildung | Interview
Text von Andrea Hillebrand, Pressesprecherin des Diakonischen Werkes Bonn und Region

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